Flüchtlinge an der Grenze zu Kroatien Die Zurückgestoßenen von Bihac
Stand: 23.10.2020 04:16 Uhr
Tausende Flüchtlinge sitzen auf ihrem Weg in die EU in Bosnien fest. Im kroatischen Grenzland werden sie abgefangen und abgeschoben. Ein Kriegsversehrter versucht mit seiner Hilfsorganisation, die Not zu lindern.
Von Simon Riesche, SWR
Wenn sich Zlatan Kovačević bereit macht, Menschen in Not zu helfen, muss er erst einmal seine Prothese anlegen. Vor fast drei Jahrzehnten verlor er als 14 Jahre alter Junge bei einem Granatenangriff im Bosnien-Krieg sein linkes Bein.
Das Unglück habe ihn stark gemacht. "Eigentlich sehe ich mich gar nicht als behindert", sagt der heute 43-Jährige. "Im Gegenteil: Die Qualen, die ich erfahren habe, lassen mich anders auf die Welt und das Leben blicken. Ich kann besser mitfühlen mit dem Schmerz und Leid anderer Menschen."
Wenig später sitzt er im Auto seiner kleinen Hilfsorganisation "SOS Bihac". Er ist auf dem Weg zum nächsten Notfall-Einsatz im Grenzgebiet der Europäischen Union.
Weg in die EU durch Minenfelder
Zlatan und seine ehrenamtlichen Helfer kümmern sich regelmäßig um Migranten und Flüchtlinge, die aus Kroatien zurück nach Bosnien getrieben werden, sie leisten erste Hilfe und versorgen die Betroffenen mit Wasser.
"Das hier sind Opfer eines klassischen 'Push-Backs', einer gewaltsamen Abschiebung aus Kroatien", sagt Zlatan und zeigt auf ein kleines Grüppchen erschöpfter Menschen unter einem Baum. Ein Mann ist ohnmächtig geworden.
Nur ein paar Meter entfernt warnen rote Schilder vor Landminen. Nicht nur wegen dieser Überbleibsel aus dem Krieg der 1990er-Jahre ist es eine gefährliche Gegend. Bären und Wölfe streifen hier durch die Wälder.
"Sie haben mir einen Zehennagel rausgerissen"
Doch das Schlimmste, was ihnen widerfahren sei, hätten ihnen nicht Tiere, sondern Menschen angetan, erzählt ein Mann aus Pakistan, der seinen vollen Namen lieber nicht nennen will.
"Die kroatische Polizei hat uns aufgegriffen und zusammengeschlagen. Dann haben sie mir gesagt, dass ich meine Schuhe ausziehen soll. Sie haben sie mir weggenommen und mir dann mit einer Zange einen meiner Zehennägel rausgerissen. Überall war Blut."
Ein anderes Push-Back-Opfer aus Algerien erzählt: "Die Kroaten haben mir gesagt, dass ich das Essen in meinem Rucksack verbrennen soll. Ich habe geantwortet, dass ich das mit meinem muslimischen Glauben nicht vereinbaren kann. Dann haben sie mir den Arm gequetscht und mich mit einem Stock geschlagen."
"Wo bleibt der Aufschrei?“
Brutale Einzelfälle? Nein! Auch wenn sich der Wahrheitsgehalt jedes einzelnen Berichts natürlich nicht unmittelbar überprüfen lässt, sind Misshandlungen und Abschiebungen hier an der Grenze durch Menschenrechtsorganisationen gut dokumentiert. Eigentlich müssten alle Personen, die es nach Kroatien und damit in die EU schaffen, dort menschenwürdig behandelt werden und Flüchtlinge ein Asylverfahren bekommen.
Stattdessen wird offenbar bewusst das Völkerrecht gebrochen. Menschen werden gepeinigt, um andere illegale Grenzgänger abzuschrecken. "Kroatien bekommt vom Rest der EU grünes Licht für dieses Vorgehen", empört sich die bosnische Aktivistin Zehida Bihorac. Von der europäischen Öffentlichkeit werde die grausame Praxis zudem nicht entschieden genug kritisiert. "Wo bleibt der Aufschrei?“
Solidarität schlägt um in Wut
Im armen und überforderten Bosnien zu bleiben, ist für die meisten Flüchtlinge und Migranten keine Option. Tausende Menschen hausen im Wald oder in verlassenen Bauruinen. Immer wieder kommt es dort unter ihnen zum Streit, oft zu gewalttätigen, manchmal sogar tödlichen Auseinandersetzungen.
Die wenigen von der EU oder von UN-Organisationen finanzierten Notlager im Land bieten längst nicht genug Platz. Bosnische Politiker drängen darauf, bestehende Lager zu schließen. Damit reagieren sie auf den Druck aus großen Teilen ihrer Bevölkerung.
Waren viele Menschen im Land zu Beginn der Krise noch sehr solidarisch, hat sich die Stimmung mittlerweile gedreht. Es gebe wegen der Fremden deutlich mehr Straftaten, so ein häufiger Vorwurf. Im Internet hetzen Radikale gegen Migranten und ihre Helfer. Auch das Team von "SOS Bihac" wird offen angefeindet.
"Ich habe keine Angst“, versichert Zlatan, der mit seiner Arbeit nicht nur Fremden, sondern auch Einheimischen in Not zur Seite springt. Am Vormittag hilft er einem alten Ehepaar bei der dringend benötigten Renovierung ihres Hauses, am Nachmittag schaut er mit seinen Helfern in einem alten Fabrikgebäude am Stadtrand von Bihac vorbei, um Geflüchteten aus Afghanistan dringend benötigte Medikamente zu bringen.
Marsch der Hoffnung - Weg in die Sackgasse
In den Abendstunden beginnt für die Gestrandeten der übliche Marsch der Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie nennen es "the game", das Spiel, eine heimliche, gefährliche Wanderung durch die Berge rüber nach Kroatien, rein in die EU.
Die meisten Fluchtversuche werden auch dieses Mal wieder von der kroatischen Polizei gestoppt und enden da, wo sie begonnen haben - zurück in der Sackgasse Bosnien: abgekämpft, durchgefroren, ohne Schuhe. "Sie sind müde, verzweifelt, und verletzt“, sagt Zlatan und blickt in die Runde.
"Wir sprechen sie an, checken, ob alles ok ist. Dann geben wir ihnen etwas zu essen oder ein paar Decken, damit sie sich aufwärmen können." Das meiste, was hier verteilt wird, hat das Team vorher günstig eingekauft. Teilweise bezahlt von Zlatans Erspartem oder seiner Versehrten-Rente, vor allem aber von privaten Spendern und ausländischen Hilfsinitiativen.
Spenden aus Deutschland
Aus Deutschland kommen zudem regelmäßig Sachspenden, zum Beispiel vom Verein "Aachener Netzwerk". Zlatans Devise: Alles, was reinkommt, wird sofort weitergegeben. Dass die europäische Flüchtlings- und Migrationskrise so nicht zu lösen ist, ist allen hier klar.
Und doch: Das selbstlose Engagement des beinamputierten Kriegsopfers Zlatan soll auch als Signal verstanden werden.
"Ich gebe einfach mein Bestes, um diese bescheuerte Welt ein bisschen besser zu machen und anderen vielleicht ein Beispiel zu geben."
Bei allem, was man tue, müsse man anderen Menschen immer auf Augenhöhe begegnen. Nur so könne jeder seine Würde bewahren. Das sei eigentlich das Wichtigste, egal wo auf der Welt.
Mehr Ausland
Weitere Meldungen aus dem Archiv vom 23.10.2020 und vom 22.10.2020
- Alle Meldungen vom 23.10.2020 zeigen
- Alle Meldungen vom 22.10.2020 zeigen