
Chinas Studentenführer im Exil Der Kampf von 1989 geht weiter
Stand: 03.06.2019 04:30 Uhr
Wu'er Kaixi war 1989 einer der wichtigsten Wortführer der Studentenbewegung in China, verhandelte mit dem damaligem Regierungschef Li Peng. Seitdem lebt er in Taiwan im Exil.
Von Axel Dorloff, ARD-Studio Peking
Jede Bewegung hat ihre Anführer: Der 21-jährige Wu’er Kaixi steht in einem olivgrünen Hemd vor Tausenden Studenten in Peking. Das Megaphon schwenkt er mit der rechten Hand auf und ab. Es ist der 20. April 1989. Wu’er Kaixi gehört zu den wichtigsten Wortführern der pro-demokratischen Studentenbewegung in China.
Heute, 30 Jahre später, lebt er in Taiwan. In einem Café an der National-Universität in Taipeh schaut er sich die Szenen von damals auf einem Tabletcomputer an. "Wir sind Überlebende eines Massakers. Und wenn du etwas in dieser Dimension seit 30 Jahren reflektierst, kannst du das nicht tun, ohne dabei auch deine eigene Rolle zu bewerten."
Man könne nicht ausschließen, dass es Studenten gab, die zum Platz des Himmlischen Friedens oder auf die Chang’an Avenue kamen, die protestierten und dann getötet wurden, weil sie zuvor seine Rede gehört hatten, befürchtet Wu’er Kaixi. "Meine Rolle in der Studentenbewegung könnte im direkten Zusammenhang mit ihrem Tod stehen."
Hunderte Demonstranten getötet
In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 schlägt das chinesische Militär die prodemokratischen Proteste in Peking brutal und blutig nieder. Rund um den Platz des Himmlischen Friedens töten Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee mit Maschinengewehren und Panzern mehrere 100, vermutlich sogar Tausende Menschen.
Nach der blutigen Eskalation am 4. Juni wird im chinesischen Staatsfernsehen die Fahndungsliste der meist gesuchten Personen verlesen. Wu’er Kaixi steht an zweiter Stelle. Er muss China verlassen und flieht über Paris und Hongkong in die USA - und zieht später nach Taiwan. Für die Volksrepublik China bleibt er Staatsfeind und Persona non grata. Er darf das Land bis heute nicht betreten.
Drei Jahrzehnte im Exil
"Ich habe meine Eltern seit 30 Jahren nicht gesehen", sagt er. "Ich kann nicht nach China einreisen, und auch meinen Eltern wird die Ausreise verweigert, obwohl sie nichts getan haben. Das ist die Realität, mit der ich mich auseinandersetzen muss. Und es ist es hart, damit zu leben. Man muss es irgendwie benennen: Ich nenne es Heimweh."
Wu’er Kaixi hat jetzt länger in der demokratischen Inselrepublik Taiwan gelebt als seine ersten 21 Lebensjahre in der Volksrepublik. Er arbeitet in Taiwans Hauptstadt Taipeh als politischer Kommentator, Filmemacher und Dozent - und hat auch schon als Abgeordneter kandidiert.
Die Träume von 1989 sollen wahr werden
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tagesthemen 23:00 Uhr, 02.06.2019
"Wenn man alles durchdenkt, kommt zunächst das Schuldgefühl, ein Überlebender zu sein. Das wird man nicht so einfach los", sagt Wu’er Kaixi. "Aber ich habe einen Weg gefunden, damit zu leben: indem ich versuche, die Träume der Opfer von 1989 wahr werden zu lassen. Um dann, wenn ich sie irgendwann im Himmel treffen sollte, zu sagen: Ich habe die unvollendete Sache, die wir gemeinsam begonnen haben, nie aufgegeben."
Der Einsatz für Demokratie und Bürgerrechte, das Engagement für die Zivilgesellschaft - für den ehemaligen Studentenführer Wu’er Kaixi bleibt das die Konsequenz aus der chinesischen Geschichte von 1989.
Chinas Studentenführer von 1989 im Exil
Axel Dorloff, ARD Peking
02.06.2019 20:38 Uhr