
Nach Haftar-Niederlage in Tripolis Ein Funken Hoffnung im zerrissenen Land
Stand: 06.06.2020 15:35 Uhr
In Libyen ringen viele Mächte um Einfluss und Macht. Doch nach der Niederlage des abtrünnigen Generals Haftar in Tripolis könnte die Diplomatie zumindest vielleicht eine Chance bekommen.
Eine Analyse von Daniel Hechler, ARD-Studio Kairo
Abgebrannte Militärfahrzeuge, Einschusslöcher in Wohngebäuden, eine Moschee in Trümmern: Die Truppen von General Chalifa Haftar haben sich aus den südlichen Vororten von Tripolis zurückgezogen.
Was bleibt, ist eine Spur der Verwüstung. Für Haftar ist es eine bittere Niederlage. Im April vergangenen Jahres verkündete er großspurig den Marsch aus dem Osten auf die Hauptstadt mit dem Ziel, die Kontrolle über ganz Libyen zu übernehmen. Nun ist die Schlacht geschlagen. Die Belagerung ist beendet. Der Chef der international anerkannten Regierung Fayez al-Sarraj in Tripolis triumphiert. Lange galt er als abgeschrieben.
Millionen Menschen atmen auf. Der monatelange Beschuss von Wohnvierteln ist beendet. Zumindest vorerst. Nun sollen wieder Verhandlungen zwischen beiden Seiten über eine Waffenruhe aufgenommen werden. Ein Hoffnungsschimmer.
Komplexes Machtgefüge
Die Situation in dem zerrissenen Land ist alles andere als übersichtlich. Zahllose Mächte ringen um Einfluss und Macht. Schließlich geht es bei dem Wüstenstaat um reiche Öl- und Gasvorkommen, um die Kontrolle über 700.000 Flüchtlinge mit dem Ziel Europa, um den Kampf gegen die Terrormiliz IS und um regionale Dominanz.
Die Macht der beiden Kontrahenten Sarraj und Haftar ist auf dünnem Sand gebaut: Sie stützen sich auf rivalisierende Milizen und Stämme, die ganz eigene Interessen beim Schleusergeschäft und im Drogenhandel verfolgen. Haftar hat seine Machtbasis im Osten des Landes, regiert aus Bengasi mit harter Hand, kontrolliert etwa 70 Prozent der Ölvorkommen. Der 76-Jährige gilt als aggressiver Machtmensch, sieht sich als Nachfolger von Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi und plant eine Militärdiktatur.
An seiner Seite stehen mächtige Verbündete: Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Russland. Sie sehen in Haftar ein Bollwerk gegen Islamisten. Die Emirate haben Drohnen und Luftabwehrraketen geliefert, Russland Waffen und Munition. Außerdem kämpfen etwa 1500 gut ausgebildete russische Söldner. Präsident Wladimir Putin will sich so lukrative Öl- und Gasverträge sichern und neben Syrien eine weitere Machtbasis im Nahen Osten errichten.
Russland und die Türkei ringen um Vorherrschaft
Ganz ähnlich zum Syrienkonflikt verlaufen auch die Konfliktlinien in Libyen. Dort steht Putin an der Seite von Machthaber Bashar al-Assad, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf der von islamistischen Rebellen. Ende 2019 schaltete er sich auch in den Libyen-Konflikt ein und läutete damit die Wende ein.
Vor allem türkische Kampfdrohnen haben Haftars Truppen heftig zugesetzt, außerdem etwa 5000 syrische Söldner, die auf Erdogans Befehl hören. Seine Intervention hat sich der türkische Präsident teuer bezahlen lassen: mit umfangreichen Rechten bei der Ausbeutung von Gas im östlichen Mittelmeer.
Außerdem kann er die Fluchtbewegung nach Europa nun auch über das Mittelmeer maßgeblich beeinflussen. Das ist eine wichtige Karte im Verhandlungspoker mit der EU. Die zeigt sich in dem Konflikt einmal mehr uneinig. Frankreich hegt Sympathien für Haftar, Italien für Sarraj. Ihr Einfluss ist begrenzt.
Dass sowohl Erdogan wie Putin sich auf der Berliner Konferenz im Januar auf ein Waffenembargo für Libyen verpflichtet haben, scheint jedenfalls belanglos. Schließlich sind für Verstöße keine Sanktionen vorgesehen.
Abschreckendes Beispiel Syrien
Haftars Niederlage fordert auch Putin heraus. Er soll 14 Kampfjets zur Absicherung des Truppenrückzugs entsendet haben, aber wohl auch als Drohgebärde. Einen Vormarsch Sarraj-treuer Einheiten Richtung Osten würde er kaum hinnehmen. Ebenso wenig wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten. Erdogan dagegen will das Momentum nutzen und Sarraj noch stärker unterstützen.
Letztlich aber haben beide Seiten kein Interesse an einer direkten Konfrontation, gar einem ausgewachsenen Stellvertreterkrieg. Das Beispiel Syrien ist abschreckend genug. Erdogan und Putin ist es bislang in oft zähen Verhandlungen immer irgendwie gelungen, einen Ausgleich zu erzielen. Ähnliches dürften sie auch für Libyen anstreben.
Aufteilung Libyens als Lösung?
Das Fenster der Diplomatie jedenfalls steht nun ein Stück weit offen. Sarraj geht in die Verhandlungen deutlich gestärkt. Haftar kontrolliert aber noch immer einen Großteil des Landes. Denkbar ist eine Aufteilung Libyens in Einflusssphären. Der Osten bliebe Haftar, gewissermaßen unter russischem Protektorat. Westlibyen und Tripolis fielen Sarraj und damit letztlich Erdogan zu. Europa bliebe außen vor, ähnlich wie in Syrien. Eine stabile, demokratische, nachhaltige Lösung ist das nicht. Besser als ein weiterer Stellvertreterkrieg auf Kosten von Millionen Zivilisten aber allemal.
UN-Sicherheitsrat verlängert Waffenembargo gegen Libyen
Peter Mücke, ARD New York
06.06.2020 07:07 Uhr
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