
Gezi-Park-Proteste in Istanbul Prozess gegen angeblichen Umstürzler
Stand: 24.06.2019 12:40 Uhr
Mit akribischer Mühe versucht die Staatsanwaltschaft Istanbul zu beweisen, dass Kulturmäzen Kavala bei den Gezi-Park-Protesten 2013 versucht haben soll, die Regierung zu stürzten. Nun hat der Prozess begonnen.
Von Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
657 Seiten Anklageschrift - die Staatsanwaltschaft Istanbul hat sich viel Arbeit gemacht, um zu zeigen, dass die Gezi-Park-Proteste vor sechs Jahren ein Umsturzversuch waren. Demonstranten hätten Polizisten Blumen geschenkt, heißt es da zum Beispiel, Frauen hätten ihren Partnern mit Sexentzug gedroht, wenn sie nicht mit auf den Taksim-Platz zur Demo kämen, ein deutscher Pianist habe ein Konzert gegeben.
Prozessbeginn in Instanbul gegen 16 Angeklagte
tagesschau 14:00 Uhr, 24.06.2019, Katharina Willinger, ARD Istanbul
Roth: "Woodstock in Istanbul"
Für die Bundestagsvizepräsidenten und Grünen-Abgeordnete Claudia Roth ist das alles nur absurd: "Gezi war doch kein Umsturz. Die Gezi-Park-Bewegung ist entstanden, weil es viele Menschen gab, die Bäume in der Mitte von Istanbul retten wollten." In Deutschland nenne man das aktive Zivilgesellschaft. "Das war ein bisschen Woodstock mitten in Istanbul. Das ist doch kein Putsch." Als Präsident Recep Tayyip Erdogan die Gezi-Park-Proteste 2013 nach mehreren Wochen niedergeschlagen ließ, war sie selbst dabei in Istanbul.
Roth kommt regelmäßig in die Türkei, auch jetzt zum Prozessauftakt. Der dürfe nicht wegen der Berichterstattung über die Bürgermeisterwahl in Istanbul untergehen. Osman Kavala sei schließlich ein international anerkannter Kulturmäzen und Gesprächspartner für europäische Regierungschefs, wie auch für Kanzlerin Angela Merkel.
"Wir wissen jetzt definitiv, dass wir abgehört werden"
In der Anklageschrift findet sich auch ein Treffen Kavalas mit einem deutschen Diplomaten samt Foto - eigentlich ein No-Go. Und auch deutsche Stiftungen und Organisationen in der Türkei sind erwähnt. Das Goethe-Institut beispielsweise arbeitet bei mehreren Projekten mit Kavala und seiner Stiftung Anadolu Kultur zusammen. Nach der Anklageschrift war dem Institutsleiter Reimar Volker klar: "Wir wissen jetzt definitiv, dass wir abgehört werden."
Unter anderem hat Volker gelesen, "dass über eineinhalb Seiten ein Telefonat transkribiert ist, das meine Vorvorgängerin mit Kavala geführt hat. Da ging es um eine Absprache, wann man sich zu einem Abendessen trifft. Das ist schon sehr irritierend."
Festnahme Kavalas 2017
Kavala wurde im Oktober 2017 am Istanbuler Flughafen festgenommen, als er gerade von einem Treffen mit der Goethe-Institut in Diyarbakir zurückkam. Seitdem sitzt er im Gefängnis. Seine Kollegin Asena Günal erzählt, es geht ihm trotz allem gut: "Er war ja zuerst in einer Einzelzelle und hatte einen sehr kleinen Hof für den Hofgang." Seit einigen Monaten habe er die Möglichkeit, in einem größeren Hof andere Insassen zu treffen und mit ihnen zu reden.
"Den Großteil seiner Zeit verbringt Kavala aber mit Lesen und Schreiben", erzählt Günal. Er schreibe und bekomme Briefe. "Er hat einen Fernseher und schaut ab und zu auch mal einen Film. Er treibt auch Sport. So verbringt er seine Tage."
Kavala - der "Rote Soros"
Regierungsnahe Medien nannten ihn den "Roten Soros", weil Kavala Kontakte zum türkischen Ableger der Open-Society-Bewegung des ungarischen Milliardärs George Soros hatte. Präsident Erdogan sieht in ihm einen Staatsfeind: "Eine Person, die während der Gezi-Ereignisse Finanzquelle der Terroristen war, sitzt momentan in Haft. Und wer steckt hinter ihm? Der berühmte ungarische Jude Soros." Dieser Mann gebe sein Vermögen für die Spaltung von Nationen aus und beauftrage dafür andere Leute, so Erdogan. "Warum sollte unsere Justiz mir nichts dir nichts einen Unschuldigen verhaften, jemanden, der nichts verbrochen hat?"
Auch Can Dündar ist angeklagt
Volker, der Leiter des Goethe Insituts in der Türkei, kann bei den Vorwürfen gegen Kavala nur den Kopf schütteln: "Es passt in einen größeren Kontext, nämlich in den der zunehmenden Kriminalisierung der Zivilgesellschaft. Alles, was Kavala an Arbeit gemacht hat, was der Versöhnung und Zusammenarbeit dient, das in Zusammenhang zu bringen mit Umsturzversuchen, ist schwer nachvollziehbar."
Neben Kavala gibt es in dem Verfahren noch 15 weitere Angeklagte, darunter Schauspieler, Anwälte und Journalisten - wie Can Dündar. Er lebt seit knapp drei Jahren in Deutschland. Bis auf Kavala und einen weiteren sind alle auf freiem Fuß.
Prozess könnte Monate dauern
Emma Sinclair Webb von Hunan Rights Watch in der Türkei macht klar: "Kein Gericht hätte die Anklageschrift zu dem Fall jemals annehmen dürfen. Was wir also erwarten ist, dass die Klage fallen gelassen wird - gegen alle 16 Angeklagten." Was aber auf jeden Fall passieren müsse sei, dass die beiden Angeklagtem aus dem Gefängnis kommen. "Das wäre das Mindeste."
Mit einem Urteil nach den ersten beiden Prozesstagen rechnen die wenigsten Beobachter. Wichtige Prozesse mit internationaler Aufmerksamkeit ziehen sich in der Türkei oft über Monate.
Kavala-Prozess: Lebenslang für türkische Gezi-Park-Proteste gefordert
Karin Senz, ARD Istanbul
23.06.2019 22:27 Uhr