
Vernichtungslager Sobibor Inszenierung eines Massenmörders
Stand: 28.01.2020 17:17 Uhr
Im Vernichtungslager Sobibor ermordeten die Nazis zwischen 1942 und 1943 mehr als 180.000 Menschen. Nun veröffentlichte Originalfotos aus dieser Zeit geben erstmals Einblick in die Welt der Täter.
Von Alexander Bühler, SWR
Die Bahngleise Richtung Warschau verschwinden in weißem Nebel, in der entgegengesetzten Richtung schimmern Baumspitzen darüber hinweg. Das ist der Ort, den sich die Nazis zum Vernichten von Menschen ausgesucht hatten. In dieser Einöde, beim Dorf Sobibor, fand während des Holocaust einer der schlimmsten Massenmorde der Geschichte statt.
Mehr als 180.000 Menschen wurden hier binnen 15 Monaten umgebracht. Und erst jetzt taucht eine Fotosammlung auf, die einen Einblick in das Vernichtungslager gibt.
Historiker veröffentlichen Fotos
Fast 80 Jahre später stehen die Berliner Historiker Anne Lepper und Steffen Hänschen auf der Rampe, von der aus die Deportierten in die Gaskammern getrieben wurden. Hänschen holt aus einer Zeichenmappe eine A3-große Kopie eines Fotos von 1943 heraus: Ein SS-Mann, hoch zu Roß, ist darauf zu sehen - der Unterscharführer Johann Niemann.
"Hier hat er sich selbst inszeniert, hier, wo die Menschen aus den Zügen getrieben wurden", sagt Hänschen. Und seine Kollegin ergänzt: "Wir sehen hier noch die damalige Holzverschalung dieser Rampe. Das heißt, der Fotograf hat sich in das Gleisbett gestellt, um ganz bewusst Niemann von unten her zu fotografieren."
Postkarten-Foto von Massenmörder Niemann
Niemann, stellvertretender Lagerkommandant im Vernichtungslager Sobibor, stellte sich ganz bewusst so in Pose, sagt Lepper. Er habe sich dieses Foto als Postkarte abziehen lassen, also deutlich größer als das damals übliche Format. "Niemann befindet sich zu dem Zeitpunkt - aus seiner eigenen Perspektive - auf dem Höhepunkt seiner Karriere," sagt sie. Einer Karriere, die auf dem Tod anderer fußte.
Der Massenmörder Niemann, kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Ostfriesland in eine Kleinbauernfamilie geboren, lernte Malergeselle und trat 1930 in die Sturmabteilung (SA) der NSDAP ein. In dieser Organisation lernt er die Gewalt kennen.
Unbekannte Einblicke: Neu entdeckte Fotos zeigen KZ Sobibor
tagesthemen 22:15 Uhr, 28.01.2020, M. Kolvenbach/A. Bühler/E. Beres, SWR
"Heizer" verbrennen Alte, Kranke und Kinder
Im ihrem Buch "Fotos aus Sobibor" zeichnet das Forscherteam Niemanns Biographie nach: Zuerst habe er sich 1934 freiwillig als Wachmann im nahegelegenen Konzentrationslager Esterwege gemeldet. Im gleichen Jahr wechselt er zur SS, wird Unteroffizier im Konzentrationslager Sachsenhausen.
1939, kurz nach dem deutschen Einmarsch in Polen, wird er von der Kanzlei des Führers - einem NSDAP-Gremium, das direkt Hitler unterstand - für das sogenannte Euthanasie-Programm der Nazis in Deutschland angefragt. Ab 1940 "arbeitet" er dort mit, als "Heizer". So werden jene genannt, die bei der Ermordung der Alten, Kranken, Kinder und anderer Hilfsbedürftiger direkt neben der Gaskammer sitzen, um sie nach deren Tod zu verbrennen und ihre Knochen zu zermahlen.
"Testphase" mit Ermordung von 70.000 Menschen
Im Frühherbst 1941 wird Niemann schließlich zum Oberscharführer befördert, baut das Vernichtungslager Belzec mit anderen SS-Männern aus dem "Euthanasie-Programm" auf. In einer "Testphase" ermorden sie dort binnen vier Wochen 70.000 Menschen.
Dort entsteht das Muster, nach dem auch die beiden nahen Lager Treblinka und Sobibor aufgebaut werden: Die Ankommenden wurden von SS-Männern aus Eisenbahnwaggons auf einen Weg getrieben, der direkt in die Gaskammern führte. So konnten im Verlauf eines Tages mehrere tausend Menschen auf industrielle Weise ermordet werden.
"Aktion Reinhard" nennen die Nazis ihr Vernichtungsprogramm. In den drei Lagern ermorden sie binnen zwei Jahren etwa 1,8 Millionen Menschen - Männer, Frauen, Kinder, Alte, Babys. Von den Orten des seriellen Tötens soll es keine Bilder geben, so die Anordnung, die alle Täter unterschrieben haben. Niemann und seine Mittäter brechen dieses Verbot, weil sie vermutlich nichts Illegitimes an ihrem Handeln sehen.
Opfer spielen bei Niemann keine Rolle
In Niemanns Bildern finden sich die Massenmörder als Hobbymusiker, als fröhliche Zechgesellen, die offenbar mit weiblichem Personal flirten. Nur die Juden, die ermordet werden, tauchen nicht auf - oder nur als Schatten.
"Seine Opfer spielen in der fotografischen Überlieferungen keine Rolle," sagt Martin Cüppers von Forschungsstelle Ludwigsburg, wo er als Spezialist die Geschichte der SS-Einsatzgruppen erforscht. "Offensichtlich hat Niemann kein Interesse gehabt, diese Opfer quasi mit voyeuristischen Blick fotografisch in seiner Sammlung überliefert zu sehen."
Trotz dieser Einschränkung - dem Blick des Täters - seien die Bilder sensationell, meint Cüppers. Sie würden die Karriere des Täters Niemanns beleuchten, die "Aktion Reinhard" in bisher unbekanntem Ausmaß bebildern und historische Zusammenhänge deutlich machen.
Bild zeigt "höchstwahrscheinlich" Demjanjuk
Zurück am Ort der Verbrechen. Auf einer Wiese neben dem Museumsneubau holt Hänschen ein weiteres Foto aus der Niemann-Sammlung heraus. "Der Fokus von dem Foto ist auf dieser Gruppe Trawniki Männer," also jenen sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Nazis als Mordhelfer anwarben.
Niemann war für sie zuständig, deswegen hat er auch ein Bild von ihnen in seine Alben aufgenommen: "Auch noch wichtig ist, das in dieser Gruppe der Trawniki Iwan Demjanjuk zu sehen ist. Höchstwahrscheinlich."


Ein Zug Trawniki im Frühjahr 1943 auf dem Exerzierplatz vor Lager III. Vorne in der Mitte liegend ist nach Angaben der Historiker wahrscheinlich Iwan (John) Demjanjuk zu sehen. Außen stehen die beiden Gruppenwachmänner und im Zentrum der Zugwachmann. (Quelle: United States Holocaust Memorial Museum)
Jener Iwan (John) Demjanjuk, der bei einem Prozess in Israel in letzter Instanz freigesprochen wurde, der beim letzten großen Kriegsverbrecherprozess 2009 in München zwar schuldig gesprochen wurde, aber starb, bevor das Urteil rechtskräftig wurde.
Die juristischen Verfahren gegen Demjanjuk waren langwierig, zudem waren Gerichte aus mehreren Ländern involviert. Die Einschätzungen der jeweiligen Richter waren unterschiedlich - aber vielleicht sind Niemanns Fotos der letzte Beweis. Auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz heute im Berliner Dokumentationszentrum "Topografie des Terrors" präsentierten die Forscher einen Vergleich mehrerer Fotos mit derselben Person und bekräftigten damit ihre Vermutung, dass es sich auf dem Niemann-Foto um eben jenen prominenten Kriegsgefangenen Iwan (John) Demjanjuk handelt.
Gaskammern und Bagger zu sehen
Doch auf dem Trawniki-Foto ist noch mehr zu sehen, erklären Lepper und Hänschen. Hinter einem Wäldchen ist das Dach der Gaskammern und der Hebe-Arm eines Baggers zu sehen, mit dem die Ermordeten anschließend aufgeschichtet und verbrannt wurden. Der Weg dorthin ist links und rechts mit Tannen bepflanzt, am Rand liegen Gedenksteine mit Namen der Ermordeten - soweit bekannt.
Bekannt ist ihr Schicksal nur, weil beim Aufstand im Oktober 1943 300 Menschen fliehen konnten, die Zeugnis ablegen konnten. Von den anderen, den Getöteten, blieb nur Asche, die die Nazis in Gruben versenkten. Auf dieser Lichtung hat Polen Steine über die Gräber legen lassen. Im dunklen Winter gleißt ihr Weiß hell. Die Steine reichen weit, wie ein kleines Meer.
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