
Region Idlib Flüchtlinge in Syrien verzweifeln
Stand: 20.02.2020 13:33 Uhr
Granateneinschläge, Luftangriffe, Artilleriebeschuss - inmitten des Krieges in Nordsyrien fliehen Hunderttausende Menschen. In der Rebellenhochburg Idlib fürchten sie das Vorrücken der syrischen Regierungstruppen.
Von Oliver Mayer-Rüth, ARD-Studio Istanbul, zzt. in Idlib
Das Wasser rund um die Flüchtlingszelte ist schwarz, wirft kleine Bläschen und stinkt nach Fäkalien. Es gab heftige Niederschläge in den vergangenen Wochen in der Stadt Sarmada im Norden der syrischen Region Idlib. So stehen einige Zelte auf einer kleinen Insel in einem See, der sich aufgrund des Regens gebildet hat.
Ein fünf Jahre altes Mädchen hat Plastiksandalen an. Ansonsten sind die Füße nackt und mit Schlamm verkrustet. Sie hustet immer wieder - wie auch viele andere Flüchtlingskinder, die hier im Matsch spielen müssen, anstatt in die Schule oder den Kindergarten zu gehen.
Aus der Ferne ist der Einschlag einer Granate zu hören. Die Kinder zucken nicht mal. Das ist Alltag in Idlib.
Das Gebiet, in dem Soldaten des syrischen Regimes islamistische Rebellen und türkische Truppen angreifen, liegt etwa 20 Kilometer Luftlinie entfernt. Die meisten Flüchtlinge in Samarda kommen selbst aus der Region Idlib oder aus dem nördlich gelegenen Aleppo.
Reportage aus dem syrischen Idlib
tagesthemen 22:15 Uhr, 19.02.2020, Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
"Ich liebe Angela Merkel"
Mohammed Kader ist hierher aus der Kleinstadt Has geflüchtet. Seine Frau wurde durch einen Angriff syrischer Assad-Soldaten getötet. Kader war Verwaltungsbeamter. Nach dem Tod seiner Frau hat er seine Heimat Hals über Kopf verlassen.
Kader schimpft auf den russischen Präsidenten Vladimir Putin, der den Regimeführer Bashar al-Assad unterstützt und fordert die internationale Gemeinschaft auf, endlich zu handeln. Und dann schwärmt er von der deutschen Kanzlerin und sagt: "Ich liebe Angela Merkel." Denn sie sei die einzige, die den Syrern geholfen habe.
Mit der Aufnahme von Flüchtlingen sei es aber nicht mehr getan, führt Kader fort. Mit Handeln meint er, Soldaten aus Europa sollten vor Ort die Menschen schützen - so wie der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan seine Soldaten nach Idlib geschickt hat.
Flucht aus Flüchtlingslagern
Komplett aufhalten konnten die türkischen Soldaten die syrischen Regierungstruppen aber bisher auch nicht. Nachts, so Kader, schliefen sie unruhig, denn Assads Truppen griffen nun auch zunehmend Flüchtlingslager an.
In Tel al-Karami, einer Stadt nur vier Kilometer von Samarda entfernt, packen Familien ihre Sachen und wollen schnell weg. Dort wo einst Zelte standen, sieht man nur noch deren Überreste.
Die Zelte seien abgebaut worden, nachdem Anfang dieser Woche eine Granate im Lager einschlug, so erzählen die wenigen Syrer, die noch hier sind. Und das geschah nur etwa sechs Kilometer hinter der türkischen Grenze.
Mindestens 1000 Menschen, so Shadi Mohamar, hätten nach dem Angriff das Lager verlassen. Der junge Mann sucht mit finsterer Miene dort, wo das Zelt seiner Familie stand, nach Brauchbarem. Er beschreibt die Ereignisse, die wenige Tagen zuvor geschehen sind:
"Mein Cousin wurde getötet und zwei andere verletzt. Die Granatensplitter schlugen in den Zelten ein, sie fingen Feuer. Die Flüchtlinge bekamen Panik.“
Syrische Regierungstruppen kommen immer näher
Auf die Frage wohin es nun gehe, zuckt er mit den Schultern. Erst mal weg hier. Sie dachten, so nahe an der Grenze seien sie sicher. Doch die Regimekräfte kommen mit Unterstützung der russischen Truppen immer näher. Ein Ring schließt sich rund um die Region Idlib.
Von Tel al-Karami aus sieht man den Berg Jebel Barakat. Ein strategischer Punkt, so die Aktivisten des „Idlib Medien Zentrums“. Sie führen uns durch die Region, sagen uns, wo wir besser umdrehen, um nicht zwischen die Fronten zu geraten.
Lage in Idlib
Morgenmagazin, 20.02.2020, Alexander Stenzel, ARD Kairo
Fragen an Milizen nicht erlaubt
Die Aktivisten arbeiten mit der islamistischen Rebellengruppe Hayat Tahrir el Sham zusammen, die vor Jahren noch zur Al-Kaida gehörte, sich jedoch von der Terrororganisation losgesagt hat. Jetzt sei die Rebellengruppe moderater, so die Führer. Doch den ihnen Fragen stellen, das dürfen wir nicht.
Noch kontrollierten Rebellen und offenbar türkische Soldaten den Berggipfel, erklärt man uns. Aber Regimetruppen greifen die Dörfer am Rande des Berges an - so auch Deret Issi. Das Krankenhaus des kleinen Ortes liegt in Trümmern seit einem Bombenangriff der syrischen Luftwaffe, sagen sie die Menschen vor Ort.
Noch während wir die Überreste des Gebäudes ansehen, schlagen auf einer gegenüberliegenden Hügelkette Artilleriegeschosse ein. Das Kampfgebiet sei nur noch wenige Kilometer entfernt, warnt ein Freiwilliger der von Moskau und Damaskus scharf kritisierten Zivilschutzorganisation "Weißer Helm". Assad und Putin halten den "Weißhelmen" vor, sie würden mit der Rebellengruppe Hayat Tahrir el Sham gemeinsame Sache machen und seien deshalb selbst auch Islamisten.
Richtung Kampfgebiet: "Welcome to Idlib"
Auf dem Weg Richtung Süden nach Idlib Stadt fahren auf den Straßen im Minutentakt Autos und Transporter voll beladen mit Flüchtlingen. Sie sitzen teilweise zu acht in einem Pkw oder auf der Ladefläche eines Transporters zwischen den Matratzenbergen und dem sonstigen spärlichen Hab und Gut.
Etwa zehn Kilometer vor Idlib wird die Schnellstraße merklich leerer. Es ist die Strecke Richtung Kampfgebiet, das kurz hinter Idlib-Stadt losgeht. "Welcome to Idlib" steht trotzdem auf einem großen Schild nach der Ausfahrt Richtung Zentrum.
Von einem Hausdach am Stadtrand können wir weit in die Ebene nach Osten blicken, hören immer wieder Detonationen und sehen Rauchsäulen kurz nach den Einschlägen.
"Die russische Armee bombardiert die Stadt"
In der Stadtmitte selbst sind viele Geschäfte geöffnet. Mopeds chinesischer Bauart sind das Hauptfortbewegungsmittel.
Unter den Passanten ist die Angst vor dem näher rückenden Krieg deutlich zu spüren. Die Lage sei beängstigend für die Menschen, weil das Regime immer näher komme, sagt Abu Selim, ein Mann in den Dreißigern mit müden Augen.
"Die russische Luftwaffe bombardiert die Stadt und macht keinen Unterschied zwischen Zivilisten und bewaffneten Kämpfern. Russland sieht uns alle als legitimes Ziel."
Erst vor Kurzem habe es auch in der Stadt wieder Einschläge gegeben. So fragen sich auch die Menschen in Idlib-Stadt zunehmend, wann es hier zu gefährlich wird und sie Richtung türkische Grenze fliehen müssen. Aber diese ist immer noch geschlossen.
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