
Flüchtlingskrise in Syrien Bomben, Kälte, Hunger - Katastrophe in Idlib
Stand: 19.02.2020 20:01 Uhr
Die "schlimmste Flüchtlingskrise" seit Ausbruch des Bürgerkriegs - so bezeichnet der Regionaldirektor der Welthungerhilfe für Syrien die Lage in Idlib. Hunderttausende sind auf der Flucht. Die Türkei droht mit einem Militäreinsatz.
Sie suchen Schutz, wo sie ihn nur finden können. In der nordsyrischen Stadt Asas hausen die Flüchtlinge sogar auf den Ladeflächen von Lastern, vor Kälte, Wind und Regen nur geschützt durch dünne Plastikplanen, die sie aufgespannt haben. Zum Essen hocken sie sich zwischen Pfützen auf den nassen Boden.
"In diesem Lastwagen lebt eine ganze Familie", sagt Rafad Kinnu, Mitarbeiter der deutschen Welthungerhilfe in Asas, auf einem Video, das er gefilmt hat. Ein paar Meter weiter haben andere im Matsch provisorische Plastikzelte errichtet. Die Flüchtlingslager, die sie aufnehmen könnten, sind längst überfüllt. In einigen Regionen kommt die Kälte hinzu, gegen die sich die Menschen kaum noch schützen können, da sie ihr Hab und Gut verloren haben. Es sollen sogar Kinder erfroren sein.
Letzte Rebellenhochburg Idlib schrumpft
Den Mitarbeitern der Hilfsorganisationen gehen langsam die Worte aus, um die Dramatik der Lage im Nordwesten Syriens zu beschreiben. Dirk Hegmanns, Regionaldirektor der Welthungerhilfe für Syrien, spricht von der "schlimmsten Flüchtlingskrise" seit Ausbruch des Bürgerkriegs vor fast neun Jahren, als die ersten Menschen gegen die Regierung protestierten und die Machthaber ihre Sicherheitskräfte losließen.
Geblieben ist von dem Aufstand die letzte große Rebellenhochburg um die Stadt Idlib, die jedoch immer kleiner wird. Seit dem vergangenen Jahr rücken die Truppen von Präsident Baschar al-Assad und deren Verbündete vor, unterstützt von russischen Luftangriffen. Erst in den vergangenen Tagen konnten sie größere Gebiete erobern.
"Es sind unglaublich viele Menschen in kurzer Zeit"
Schon jetzt sind nach UN-Angaben seit Anfang Dezember mindestens 900.000 Menschen vor Kämpfen, Bombardierungen und den heranrückenden Assad-Truppen geflohen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Sie versuchen in Gebieten unterzukommen, die wegen früherer Flüchtlingswellen ohnehin schon äußert dicht besiedelt sind.
Reportage aus dem syrischen Idlib
tagesthemen 22:15 Uhr, 19.02.2020, Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Die Helfer sind oft überfordert. "Wir schaffen es, Hilfe zu bringen", sagt Hegmanns. "Aber es sind unglaublich viele Menschen in kurzer Zeit, da ist es schwierig zu reagieren." So fehlt es an allem: an Unterkünften, Nahrung, Heizmitteln und medizinischer Versorgung. Auch weil bei Luftangriffen immer wieder Krankenhäuser getroffen werden.
Oppositionelle Aktivisten werfen Syrien und seinem Verbündeten Russland vor, gezielt lebenswichtige Infrastruktur anzugreifen, um die Menschen zur Aufgabe zu zwingen. Selbst in Flüchtlingslagern drohen weiter Angriffe.
Ärzte ohne Grenzen: Angriffe auf Vertriebene
So meldete die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), in den vergangenen Tagen seien westlich der Stadt Aleppo neben Orten auch provisorische Vertriebenenlager bombardiert worden. Der Landeskoordinator der Organisation, Julieb Delozanne, sagt:
"Die Situation der Menschen ist verzweifelt. Die Angriffe treffen jetzt Gebiete, die bislang als sicher galten."
Auf dem Flughafen der nordsyrischen Großstadt Aleppo landete das erste Verkehrsflugzeug seit 2012. Die Regierung wollte mit dem Flug von Damaskus nach Aleppo Erfolge ihrer jüngsten Offensive in Teilen der Provinz Aleppo und der benachbarten Rebellenhochburg Idlib unterstreichen. An Bord der Maschine waren Vertreter der Regierung Assads und Journalisten.
Türkei droht mit Militäreinsatz
Die Türkei hat ihre Grenzen geschlossen, weil sie schon mehr als 3,5 Millionen Syrer aufgenommen hat. Rafad Kinnu befürchtet das Schlimmste: "Wenn das Assad-Regime kommt, bedeutet das ein Massaker", prophezeit er. "Dann werden viele Menschen sterben. Und sie werden versuchen, in die Türkei zu kommen. Aber das wird unmöglich sein."
Die Türkei werde Idlib nicht der syrischen Regierung und ihren Unterstützern überlassen, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Sein Militär könne jederzeit zuschlagen. Russland, das den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad unterstützt, hatte zuvor betont, dass ein türkischer Militäreinsatz das schlimmste Szenario wäre. Erdogan sagte, es seien "die letzten Tage" für das syrische "Regime", um die Aggression zu stoppen und sich an die Grenzen des Sotschi-Abkommens zu halten.
Bei der anhaltenden Offensive der syrischen Regierungstruppen geraten immer wieder auch türkische Einheiten unter Beschuss. 14 Soldaten wurden nach Angaben aus Ankara bislang getötet, weitere 45 verletzt.
Russisches Veto im UN-Sicherheitsrat
Rücken Assads Truppen weiter vor, wird nicht nur die Zahl der Flüchtlinge steigen, sondern das Zufluchtsgebiet immer kleiner. Der syrische Präsident zeigte sich in dieser Woche in einer Fernsehansprache siegessicher: Seine Truppen würden die Offensive fortsetzen, bis ganz Syrien "befreit" sei. Und die Rebellen waren in der Vergangenheit nicht mehr in der Lage, ihre Gegner aufzuhalten.
Am Abend stimmte Russland im UN-Sicherheitsrat nach Angaben von Diplomaten gegen eine Erklärung für eine Waffenruhe. Darin forderte Frankreich ein Ende der Kämpfe und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts in Idlib.
UN: „Horror neuer syrischer Flüchtlingskrise vervielfacht“
Antje Passenheim, ARD New York
19.02.2020 21:27 Uhr
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