
Venezuelas verlassene Kinder "Ich träume, dass meine Mama zurückkehrt"
Stand: 16.02.2020 13:54 Uhr
Etwa eine Million Kinder in Venezuela leben ohne ihre Eltern. Diese versuchen, in den Nachbarländern Geld zu verdienen. Die zurückgelassenen Kinder leben mit Schmerzen und Angst.
Von Anne-Katrin Mellmann, ARD-Studio Mexiko
700 Kinder lernen in der kirchlichen Schule "Glaube und Freude" im Petare, dem größten Slum Venezuelas. Etwa jedes zehnte Kind dieser Schule muss ohne Eltern leben, weil diese in eines der Nachbarländer geflohen sind. Der sechsjährige Angel hat eine ganz eigene Erklärung dafür, dass Mama und Papa weg sind: "Meine Eltern sind nach Bogotá in Kolumbien gegangen, um mir Spielzeug zu kaufen - ein Telefon, ein Skateboard und Rollschuhe."
Vier Kinder bei der Oma
Seit zwei Monaten sind sie weg, und er ist zusammen mit seinen drei jüngeren Geschwistern bei der Oma Maria untergebracht - in der Abstellkammer, wie er sagt. Die Oma Maria Molina wohnt mit Mann, Nichte und jetzt auch den vier Enkeln in einem ärmlichen Häuschen am abrutschgefährdeten Berghang. Auf dem Arm trägt sie ihre erst acht Monate alte Enkelin, ein Baby, das nicht lacht.
Seit sechs Monaten sei hier kein Leitungswasser angekommen, und wegen der Stromausfälle sei der Kühlschrank kaputt gegangen, klagt die 68-Jährige. In dem Häuschen ohne Ventilator steht die Hitze. Es riecht beißend und bitter, nach einer elenden Mischung aus Abfall, Exkrementen und Essen.
"Manchmal gehen wir hungrig zu Bett"
In der Hyperinflation entspricht Molinas Monatsrente etwa einem US-Dollar. Für die vier Enkel gibt es vom Staat nichts, nur unregelmäßige Lebensmittelzuteilungen, weil Molina den dafür notwendigen Vaterlandsausweis besitzt. Nur zehn Dollar im Monat können Tochter und Schwiegersohn aus Kolumbien schicken.
"Am Telefon sagt meine Tochter, wie sehr sie die Kinder vermisst", erzählt Molina. "Sie ist nur weggegangen, damit es ihnen besser geht. Die Situation ist schrecklich. Wir haben nicht genug zu essen. Manchmal gehen wir hungrig zu Bett. Viele sind deshalb geflohen. Hier sind praktisch nur noch einige Alte übrig. Alle sind weg - nach Ecuador und nach Chile."
Die Krise treibt die Menschen in die Flucht. Unfreiwillig lassen viele ihre Kinder zurück. Schon fast eine Million der zehn Millionen venezolanischen Kinder und Jugendlichen wurden laut Erhebungen der Nichtregierungsorganisation Cecodap und des Umfrageinstituts Datanalisis zurückgelassen.
Schmerzen und Angst
Diese Kinder erlebten die Welt im ständigen Ausnahmezustand, beschreibt es Abel Sarabia, Psychologe und Chef und von Cecodap: "Uns macht das Schweigen zu dem Thema große Sorgen", sagt er. "Wir schlagen Alarm wegen der dramatischen Dimension. Diese Familien und Kinder brauchen Unterstützung. Das Kind ist traurig, weil die Eltern weg sind. Aber der Familienangehörige, der sich um das Kind kümmert, ist auch traurig." Da sei der Schmerz der Eltern, die gehen, der Schmerz des Kindes, das bleiben muss und der Schmerz der Angehörigen. Es gebe Schmerzen und Angst und zudem die Vernachlässigung durch den Staat. Der habe keine Antworten auf den Notstand.
"Traurig, lustlos, manchmal depressiv"
In der Schule "Glaube und Freude" verstehen die betroffenen Kinder kaum, warum ihre Eltern weggegangen sind. Zu abstrakt sei für sie die Idee von einem besseren Leben, meint die Lehrerin Marisela Mujica, die eine Kette mit einem großem "Ich liebe Jesus-Anhänger" trägt.
"Uns fällt sehr auf, dass die zurückgelassenen Kinder aggressiv und rebellisch auf den Verlust reagieren", erzählt sie. "Eine Haupteigenschaft der anderen Kinder an dieser Schule ist ihre Fröhlichkeit trotz der Armut, in der sie leben. Aber die verlassenen Kinder sind traurig, lustlos, manchmal sogar depressiv. Viele leben bei ihren Großeltern, die sich aber nicht immer adäquat um sie kümmern können, die oft überfordert sind und körperliche Gewalt anwenden. Die Kinder laufen nach draußen, und dort geraten sie in die Fänge von kriminellen Jugendbanden."
Strafen und auch Schläge
Oma, Opa und Tanten könnten den Verlust von Eltern nicht ausgleichen, so Lehrerin Mujica. Viele Kinder haben Lernschwierigkeiten, auch der sechsjährige Angel und seine Geschwister. Im Haus seiner Großeltern gäbe es viele Strafen und auch Schläge. Und es sei nie genug zu essen da.
Er träume von Milchreis, erzählt Angel mit ernsten Augen, während er sich auf dem Drehstuhl hin und her bewegt. Aber wenn es überhaupt mal Milch gebe, bekomme die das Baby. "Meine Mama hat mir Käsebrote gemacht. Ich vermisse sie sehr. Ich träume davon, dass meine Mama nach Hause zurückkehrt. Das träume ich nachts und morgens, wenn ich aufwache."
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