
Waisen im syrischen Idlib "Ich weiß noch, wie die Bomben einschlugen"
Stand: 24.01.2020 14:48 Uhr
Sie flohen vor den Bomben in Syrien, und sie haben Vater oder Mutter verloren. 20 Kinder leben nun in einem Waisenhaus in Idlib. Hier fehlt es an vielem. Das Schlimmste aber ist die Angst.
Von Daniel Hechler, ARD-Studio Kairo
Sie kichert, hüpft auf der Matratze, wirft den Ball zu ihrem Spielkammeraden und fängt ihn wieder. Es sind solche kurzen Augenblicke des Glücks, die Kadira all die furchtbaren Erlebnisse vergessen lassen. Die Erlebnisse von Krieg, Tod und Vertreibung.
Das elfjährige Mädchen stammt aus dem Südosten Idlibs. Sie floh mit ihren beiden Brüdern. Das Haus ihrer Eltern liegt in Trümmern. "Ich weiß noch, wie Bomben in unser Haus und das unserer Nachbarn eingeschlagen sind", erzählt sie. "Beide Häuser waren völlig zerstört. Ein Mädchen von nebenan lag tot in den Trümmern."
Ihr Vater fiel Regierungstruppen in die Hände. Keiner weiß, ob er noch lebt. "Ich wünschte, mein Vater wäre wieder zu Hause. Wenn er plötzlich weg ist, hat man das Gefühl, das nicht ertragen zu können", sagt sie. Die Mutter war mit den drei Kindern überfordert. In Idlib gab sie ihre Kinder schweren Herzens im Waisenhaus ab.
Ein Waisenhaus in Idlib
tagesthemen 21:45 Uhr, 24.01.2020, Daniel Hechler, ARD Kairo
Für die einfachsten Bedürfnisse
Es ist eine denkbar schlichte Unterkunft. Vor einem Jahr haben sich ein paar Freunde zusammengetan, Geld gesammelt, das Haus angemietet, Spielzeug und ein paar Bücher gekauft. "Wir versuchen, wenigstens die einfachsten Bedürfnisse der Kinder zu befriedigen", sagt Hasnaa Dahnun, eine der Betreuerinnen. "Natürlich fehlt es an vielem. Aber wir geben uns Mühe."
"Hoffentlich verschonen sie uns"
20 Waisen und Halbwaisen leben hier. Sie sind zwischen einem Jahr und 15 Jahren alt, und sie kommen aus allen Landesteilen Syriens. Im Winter ist es bitterkalt, immer wieder fällt der Strom aus. Es gibt nur einen Ofen.
Dahnun liest den Kindern vor, hilft ihnen, lesen und schreiben zu lernen. Für die Mädchen gibt es ein paar Puppen, für die Jungen Lego. Die Spielsachen wurden gespendet. Die Kinder sind für all das dankbar und leben doch in Angst. Immer wieder hören sie Flugzeuge und Einschläge von Bomben. "Wir haben so viel Angst. Hoffentlich verschonen sie uns", meint Kadira.
Fast täglich sterben Menschen
Draußen spielen die Kinder kaum noch. Es ist einfach zu gefährlich. Vor ein paar Tagen bombardierten russische und syrische Kampfjets das Industriegebiet der Stadt. Mehr als 20 Menschen kamen dabei ums Leben. Auch der Markt wurde getroffen. Fast täglich sterben Menschen in der letzten Rebellenhochburg Syriens - trotz einer Waffenruhe.
Idlib wird von einer radikalislamischen Miliz kontrolliert. Syriens Machthaber Baschar al-Assad und sein Verbündeter Russland geben vor, die Miliz zu bekämpfen. Assad hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er die Kontrolle über das ganze Land zurückhaben will.
Tatsächlich aber treffen die Luftschläge vor allem Zivilisten. Drei Millionen Menschen leben in der Provinz dicht gedrängt, darunter etwa eine Million Kinder. Viele wurden schon mehrfach vertrieben und sitzen nun in der Falle. Eine Flucht in andere Landesteile ist nicht mehr möglich. Die Grenze zur Türkei ist dicht.
Keine Hoffnung mehr
Wenn Dahnun für die Kinder einkaufen geht, beschleicht sie ein mulmiges Gefühl. Es könnte jederzeit auch sie treffen. Aber mit diesem Risiko hat sie gelernt zu leben. "Die Menschen, die hier leben, haben keine Hoffnung mehr. Umso mehr sind wir um das Schicksal der Kinder besorgt", sagt sie. "Sie haben wohl keine Zukunft mehr."
"Wir wollen einfach nur leben"
In einem kleinen Geschäft in der Nähe kauft sie Süßigkeiten, Reis, Eier und Gemüse ein. Für viel mehr reicht ihr knappes Budget nicht. Drei spärliche Mahlzeiten zaubern die Helfer im Waisenhaus daraus jeden Tag. Nicht immer werden alle Kinder satt. Darüber aber beklagt sich keiner. "Das Leben hier ist gut", sagt Kadira.
Dahnun aber macht sich um sie und all die anderen Kinder große Sorgen. "Die Bomben, der Tod, die Zerstörung, all das Blut - welche Sünde haben sie begangen, um all das in diesem Elend von Idlib erleben zu müssen?", fragt sie wütend. "Wir sind Zivilisten, ganz normale Menschen. Wir sind Frauen, Kinder und Senioren. Wir wollen einfach nur leben, sonst nichts." Verzweiflung und Resignation schwingt mit, doch aufgeben will sie nicht. So lange sie noch kann, will sie für die Kinder da sein.
Womöglich aber müssen sie das Waisenhaus eines Tages aufgeben, wenn der Krieg noch näher rückt.