
Abbiegeassistenten Vermeidbares Risiko
Stand: 11.02.2020 01:29 Uhr
Elektronische Abbiegeassistenten können Leben retten. Deshalb sind sie ab 2024 für neue Lastwagen und Busse vorgeschrieben. Einigen Spediteuren geht das nicht schnell genug.
Von Jenni Rieger, SWR
Wenn der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) und die Grünen heute in Berlin ihr Positionspapier zur "Verhütung von tödlichen Abbiegeunfällen mit Lkw" vorstellen, dann hat das auch etwas mit einem elfjährigen Mädchen aus Hannover zu tun, mit einem 13-jährigen Jungen aus Oldenburg oder einer 37-jährigen Radfahrerin aus Berlin. Sie alle wurden beim Abbiegen von einem Lkw erfasst und dabei getötet.
Elektronische Abbiegeassisten ab 2024 Pflicht: Deutschem Fahrrad-Club und Grünen geht das nicht schnell genug
tagesschau 16:00 Uhr, 11.02.2020, André Kartschall, RBB
Durchschnittlich 3200 Kollisionen von Lkw und Fahrradfahrern pro Jahr hat die Unfallforschung der Versicherer (UDV) ermitteln. Das heißt konkret: 70 Radfahrer sterben jährlich im Straßenverkehr, ein Drittel von ihnen bei sogenannten Abbiegeunfällen mit Lkw.
Der Fall Beatrix Willburger
Andere überleben schwer verletzt. So wie Beatrix Willburger. Sie war 13 Jahre alt, als sie 1994 mit dem Rad zur Schule fuhr und von einem tonnenschweren Betonmischer erfasst wurde. Die Doppelzwillingsreifen des Lkw überrollten das Kind, der Fahrer merkte davon nichts. Beatrix hatte sich in seinem toten Winkel befunden, war für den Fahrer quasi unsichtbar.
14 Jahre saß sie danach im Rollstuhl. Und ihr Vater wurde aktiv. "Der Unfalltypus ist zum Kotzen", sagte Ulrich Willburger einmal in einem Interview. "Und er bringt so viel Leid mit sich."
"Trixi"-Spiegel retten Leben
Heute hängt der von ihm erfundene und nach seiner Tochter benannte "Trixi"-Spiegel an einigen schwer einsehbaren Kreuzungen in Deutschland. Aber nur an einigen. Gerade mal 1000 solcher Spiegel wurden in der Bundesrepublik angebracht. Denn gesetzlich vorgeschrieben ist der "Trixi"-Spiegel nicht.
Freiburg hat ihn trotzdem aufgehängt - 160 Spiegel, um genau zu sein - immer dort, wo aufgrund der Unübersichtlichkeit Lkw Gefahr laufen könnten, Radfahrer oder Fußgänger zu überfahren. Das passierte in Eigenregie der Stadt und nicht etwa auf Initiative oder mit Geld des Bundesverkehrsministeriums - darauf wollte man hier nicht warten.
Feldversuch mit Abbiegeassistenten
Überhaupt scheint Baden-Württemberg eigene Wege zu gehen: In einem bundesweit einmaligen Feldversuch wurden dort 500 Lkw mit Abbiegeassistenten ausgestattet.
Abbiegeassistenten informieren die Fahrer von Lkw über die Anwesenheit anderer Verkehrsteilnehmer, auch über diejenigen, die sich gerade im sogenannten "toten Winkel" aufhalten. Dabei werden Ultraschall- oder Radarsysteme oder auch Kameras eingesetzt. Verschiedene dieser Systeme hat der "Verband der Spedition und Logistik" (VSL) gemeinsam mit dem Verkehrsministerium Baden-Württemberg an Speditionen verteilt.
Mehrheit der Spediteure für Einführung
Das Ergebnis des Tests: Nach dem ersten Einsatz im Sommer 2019 gaben 77 Prozent der teilnehmenden Unternehmen an, sie würden eine Nachrüstung ihres Fuhrparks mit Abbiegeassistenten befürworten. Um die Sicherheit von Radfahrern und Fußgängern zu verbessern, aber auch zum Schutz ihrer eigenen Fahrer.
"Einen Radfahrer oder Fußgänger fast zu übersehen, gehört mit zu den heftigsten Erfahrungen, die ein Fahrer machen kann", erklärt Andrea Marongiu, Geschäftsführer des VSL. "Man hört es immer wieder von Lokführern, die nach einem tödlichen Unfall ihren Job nie mehr machen können. Das ist bei Lkw-Fahrern nicht anders. Da ist die Frage, ob man sich jemals wieder in die Fahrerkabine traut."
Eine Frage der Kosten
Doch 40 Prozent der Unternehmen im Feldversuch gaben ebenfalls an, die hohen Kosten für Abbiegeassistenzsysteme würden sie abschrecken. "Das System alleine, dann noch der Einbau, dann der Ausfall des Lkw für die Dauer des Einbaus, das kann sich schon auf 2500 Euro belaufen", rechnet Marongiu vor.
Seit 2019 fördert der Bund die Nachrüstung mit Abbiegeassistenten mit bis zu fünf Millionen Euro pro Jahr. Damit werden jedoch nicht alle Kosten der Spediteure für die Umrüstung gedeckt. Und so wird der Einbau eines Abbiegeassistenten für die Speditionen immer mehr zu einer Gewissensfrage.
Vorteil beim Werben um Fachkräfte
Auch bei der Firma Bullinger Speditions in Stuttgart stellt sich mehr und mehr die Frage, wie und wann die Flotte umgerüstet werden kann, auch aus einem ganz anderen Grund: "Es ist heutzutage unheimlich schwer, Fahrer zu bekommen. Die muss man schon richtig locken", sagt Geschäftsführer Stephan Möbus. Zum Beispiel mit modernen Assistenzsystemen.
Im Feldversuch, an dem sich seine Firma beteiligte, habe man nur positive Erfahrungen gemacht, sagt Möbus. Die Fahrer seien begeistert. Nun denke die Firma darüber nach, selbst Abbiegeassistenzsysteme anzuschaffen - allerdings nach und nach und nicht auf einen Schlag. "Wir können nicht unsere gesamte Flotte nachträglich umrüsten", so Möbus, "das rentiert sich bei der geringen Laufzeit unserer Lkw nicht. Aber bei Neuanschaffungen werden wir auf jeden Fall darüber nachdenken."
Ab 2024 Pflicht - bei Neuzulassungen
Seit dem 1. Januar müssen bereits alle Lang-Lkw, also solche mit bis zu 25 Metern Länge, verpflichtend mit einem Abbiegeassistenten versehen sein, so sieht es eine EU-Richtlinie vor. Bis 2024 sollen dann alle übrigen Lkw und Busse nachziehen - zumindest die Neuzulassungen.
Marongiu geht das nicht schnell genug. "Wenn ich 2023 noch einen neuen Lkw ohne Abbiegeassistenzsystem kaufe, und der läuft dann sieben Jahre, heißt das, dass wir bis 2030 noch Risiken eingehen, die vermeidbar wären."
Tatsächlich könnten elektronische Abbiegeassistenten laut der Unfallforschung der Versicherer (UDV) mehr als 40 Prozent aller Unfälle zwischen Lkw und Radfahrern verhindern und mehr als jedem dritten Unfallopfer das Leben retten - wenn sie denn flächendeckend vorgeschrieben wären.
Aus dem Archiv
Mehr Inland
Top 5
Weitere Meldungen aus dem Archiv vom 11.02.2020 und vom 10.02.2020
- Alle Meldungen vom 11.02.2020 zeigen
- Alle Meldungen vom 10.02.2020 zeigen