
Verfahren zum Lübcke-Mord Prozess unter besonderer Beobachtung
Stand: 16.06.2020 21:27 Uhr
Beim Auftakt zum Lübcke-Prozess treffen die Angeklagten auf die Familie des ermordeten Politikers. Bevor die Anklage verlesen wird, stellen die Verteidiger zahlreiche Anträge.
Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion
Es herrscht eine Art angespannte Ruhe um kurz vor zehn im Frankfurter Gerichtssaal. Die Ehefrau von Walter Lübcke und seine beiden Söhne kommen herein und gehen hintereinander zu ihren Plätzen. Sie sind als Nebenkläger am Prozess beteiligt.
Um kurz nach zehn wird dann Stephan Ernst in den Saal geführt, in Anzug und weißem Hemd. An seinem Platz nimmt ein Wachtmeister ihm die Handschellen ab. Gleiches passiert mit Markus H., dem zweiten Angeklagten. Erstmals begegnen sich die Angehörigen des Opfers und die Angeklagten. Stehen oder sitzen sich mit rund zehn Meter Abstand gegenüber.
Frank Bräutigam, ARD-Rechtsexperte, zum Prozessbeginn im Mordfall Lübke
tagesthemen 22:15 Uhr, 16.06.2020
Angehörige wollen Präsenz zeigen
Lübckes Familie teilte vor dem Prozess mit, sie wolle Präsenz zeigen, man dürfe nicht verstummen, sondern müsse klar Position für eine freiheitliche Gesellschaft beziehen. Diese Präsenz, sie ist für den Beobachter den ganzen Tag über während der Verhandlung, selbst in den Pausen förmlich zu spüren. Immer wieder schauen die Familienmitglieder direkt und lange zu Ernst hinüber, als wollten sie zeigen: Wir sind hier, wir wollen wissen was passiert ist. Soweit erkennbar, erwidert er die Blicke nicht.
Es ist ein Prozess mit besonderer Dimension. Zwei Jahre liegt das Urteil im Münchner NSU-Prozess zurück, unter anderem zu neun Morden an Menschen mit ausländischen Wurzeln. Nun geht es um den Vorwurf, ein politischer Beamter sei aus rechtsextremen und rassistischen Gründen getötet worden, weil er sich für eine liberale Flüchtlingspolitik einsetzte.
Der Prozess steht unter besonderer Beobachtung, wie der Fall juristisch aufgeklärt wird. Wegen Corona findet er unter erschwerten Bedingungen statt. Die Zahl der Zuschauer- und Medienplätze im Saal ist erheblich reduziert.
Zunächst viele Anträge
Manche Dinge sind bei großen Strafprozessen oft ähnlich. Sie beginnen nicht sofort mit der Verlesung der Anklageschrift, sondern mit prozessualen Anträgen der Verteidigung. So auch heute. Die Verteidiger kritisierten zum Beispiel: Der Vorsitzende Richter sei befangen. Die Bedingungen unter Covid-19 erlaubten keinen Prozess unter angemessenen Bedingungen. Die Verteidigung habe nicht genug Zeit gehabt, die umfangreichen Akten von 90.000 Seiten zu durchforsten. In den Medien habe es eine Vorverurteilung der Angeklagten gegeben. Schließlich berichtet ein Verteidiger von H. von einem Farbbeutelanschlag auf seine Kanzlei und bittet um Unterstützung der Polizei.
Nicht jede Unzufriedenheit führe gleich zu einem Rechtsverstoß, hält der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Dieter Killmer, dagegen. Es ist bereits Mittag, als der juristische Vertreter der Familie Lübcke, Holger Witt, die Gemütslage zusammenfasst: "Für uns war es schwer erträglich, diesen Vormittag zu erleben", sagt er. Die Verteidiger hätten "im Trüben rechtsstaatlicher Prinzipien gefischt, ohne dass eine Verletzung erkennbar ist." Den Farbbeutelanschlag verurteilt er allerdings ausdrücklich.
Vorwurf: Mord
Am frühen Nachmittag nach der Mittagspause verkündet der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel dann: Manche der Anträge werden abgelehnt, über manche von ihnen werde später entschieden. Oberstaatsanwalt Killmer steht auf und verliest die Vorwürfe der Anklageschrift.
Mit einer von Rassismus geprägten Grundhaltung habe Ernst Walter Lübcke als Vertreter einer liberalen Flüchtlingspolitik abstrafen wollen, sich deshalb in der Nacht des 1. Juni 2019 auf der Terrasse des Wohnhauses an Lübcke herangeschlichen und mit einem Kopfschuss getötet.
Die Vorwürfe beruhen im Wesentlichen auf dem Geständnis von Ernst, das er im Juni 2019 in einer vierstündigen Aussage abgegeben hatte. Für die Ermittler ist diese Version glaubhaft, sie passt aus ihrer Sicht zu den Beweismitteln, die man am Tatort und an der Waffe fand.
Hat Markus H. Beihilfe geleistet?
Der Angeklagte H. habe Beihilfe zum Mord an Lübcke geleistet, ohne Ernsts ganz konkreten Pläne zu Lübcke genau zu kennen, so die Anklage. Die beiden hätten gemeinsame Schießübungen gemacht. Insgesamt habe H. seinen Freund Ernst in seinem Entschluss zur Tat bestärkt. "Psychische Beihilfe" nennt man diesen Vorwurf rechtlich. H.s Verteidiger bestreitet dies später vehement, wirft der Bundesanwaltschaft einen "politischen Prozess" vor und beklagt eine "mediale Inszenierung".
Nicht untergehen soll dabei: Ernst ist auch wegen Mordversuchs an einem irakischen Asylbewerber im Jahr 2016 angeklagt. Von einem Fahrrad aus soll er dem Mann ein Messer in den Rücken gerammt haben. Das Opfer sitzt ebenfalls im Frankfurter Gerichtssaal, hört aufmerksam der Anklage zu und wirft immer wieder einen Blick zu Ernst hinüber. Der bestreitet diese Tat.
Knackpunkt widerrufenes Geständnis
Ernsts Geständnis ist nur eine von zwei Versionen vom Tod Walter Lübckes, die er den Ermittlern präsentiert hat. Er widerrief im Juli 2019 sein erstes Geständnis. Im Januar 2020 sagte er dann aus, er sei zusammen mit dem zweiten Angeklagten Markus H. auf Lübckes Terrasse gewesen. H. habe die Waffe in der Hand gehabt. Dabei habe sich aus Versehen ein Schuss gelöst. Diese Version ist die Gegenposition zur Anklage.
Das ursprüngliche Geständnis darf man im Prozess weiter verwenden. Entscheidend wird sein, welche Meinung sich das Gericht im Laufe des Prozesses dazu bildet. Im Gerichtssaal waren heute bereits Videoleinwand und Beamer aufgebaut. Gut möglich, dass sich dort bald alle Beteiligten ein Bild von Ernsts ursprünglicher Aussage machen können, die auf Video aufgezeichnet wurde.
Appell des Richters
Der Tag endet mit der Belehrung der Angeklagten, dass sie das Recht haben, zu den Vorwürfen zu schweigen - auch das Pflichtteil in einem Strafprozess. Nicht aber der folgende eindringliche Appell Sagebiels. Aus langjähriger Erfahrung sage er Angeklagten immer: "Hören Sie nicht auf Ihre Verteidiger, hören sie auf mich."
Der Richter wird noch konkreter: Wenn es etwas zu gestehen gebe - er betont dabei das "wenn" - dann wirke sich ein frühes und reuevolles Geständnis im Gerichtssaal auf die möglichen Konsequenzen aus. Heute werde Ernst jedenfalls nichts sagen, entgegnet sein Verteidiger. Dass es im Laufe des Prozesses eine Aussage geben wird, wolle er aber nicht ausschließen.
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