
Gewalt in Familien Grund zu großer Sorge
Stand: 06.05.2020 18:00 Uhr
Normalerweise schauen Schulen und Kitas auch darauf, ob es Kindern gut geht. In Corona-Zeiten geht das nicht. Einer deutschlandweiten Umfrage von WDR und SZ zufolge sorgen sich nun die Jugendämter um die Situation in Familien.
Von Arne Hell, Arnd Henze, Lena Kampf und Martin Kaul, WDR
Die Kitas geschlossen, viele Schulen weitgehend dicht - und ein Großteil der Kinder zu Hause. Nicht nur für den Bildungserfolg haben die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Konsequenzen, sondern auch für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt und Missbrauch.
Jetzt belegen erstmals Zahlen: Viele Jugendämter bekamen nach dem Beginn der Mitte März bundesweit verhängten Corona-Einschränkungen deutlich weniger konkrete Hinweise auf akute Misshandlungen oder Verwahrlosungen von Kindern. Das ist das Ergebnis einer deutschlandweiten Umfrage von WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ). Den Grund für den Rückgang sehen viele Jugendämter darin, dass Kitas und Schulen geschlossen sind. Von dort kommt sonst ein Gutteil der Meldungen.
Deutlich weniger Kinderschutzmeldungen
Im Rahmen der Befragung waren mehr als 540 Behörden bundesweit angeschrieben worden, mehr als 230 Jugendämter beteiligten sich an der Umfrage und lieferten Zahlen zur Entwicklung der Kinderschutzmeldungen. 43 Prozent dieser Jugendämter gaben in einer Selbsteinschätzung an, die Anzahl der Kinderschutzmeldungen sei in den ersten vier Wochen nach Beginn des Kontaktverbotes rückläufig oder stark rückläufig gewesen.
Etwa gleich viele Ämter berichteten von gleich bleibenden Zahlen. Lediglich elf Prozent, gaben an, mehr oder viel mehr Gefährdungsmeldungen erhalten zu haben als vor Corona-Zeiten. Auch die Gesamtzahl der eingetroffenen Kinderschutzmeldungen war nach den Zahlenangaben der beteiligten Jugendämter rückläufig.
Experten warnen vor wachsendem Dunkelfeld
Damit liegen erstmals Zahlen vor zu einer Entwicklung, vor der Experten zu Beginn der Corona-Krise gewarnt hatten: Dass sich durch die Schließung von Kitas und Schulen das ohnehin existierende Dunkelfeld vergrößert, wenn es um Missbrauch und Gewalt an Kindern geht.
Denn dass das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder rückläufig ist, glauben die wenigsten Experten. So melden zahlreiche Jugendämter, dass ihnen durch die weitgehende Schließung der Schulen und Kitas die wichtigsten Institutionen fehlen, die ansonsten die Kinder im Blick halten - und die im Normalfall am zuverlässigsten mögliche Gefährdungen melden.
Teilweise hoher Druck auf Familien durch Corona
Die Hochschulprofessorin und Kinderschutzexpertin Kathinka Beckmann von der Hochschule Koblenz wertet die Ergebnisse der Umfrage als "sehr besorgniserregend." Sie weist darauf hin, dass einige Familien durch den Wegfall des Schulbetriebs zwar durchaus auch eine Entlastung spürten - allerdings steigere sich vielerorts auch der Druck auf die Familien enorm.
Das Bundesfamilienministerium, das nach eigenen Angaben derzeit nicht über gesicherte Daten zur Entwicklung der Gefährdungsmeldungen verfügt, vermutet ebenfalls, dass sich vor allem das Dunkelfeld vergrößert hat. "Auch angesichts dieser Zahlen, dürfen wir uns nicht ins Sicherheit wiegen", sagte eine Sprecherin zu den Ergebnissen der Umfrage von WDR und SZ. "Risiko- und Notlagen von Kindern werden angesichts der weitgehenden Schließung von Kitas und Schulen viel schwerer sichtbar." Das Ministerium verwies darauf, dass sich etwa die Nachfrage bei Sorgentelefonen oder der Chatberatung von Jugendlichen teils um mehr als 20 Prozent erhöht hätten.
Jugendämter vor großen Herausforderungen
Große Unterschiede zwischen den Jugendämtern zeigen sich bei der Frage, wie genau die Betreuung von Familien in Corona-Zeiten organisiert wird. Einige haben Anweisungen ausgegeben, mit Kindern und Eltern möglichst nur noch per Video-Chat oder Telefon Kontakt zu halten. Andere sagen, dass sie auf die Einschätzung der Familienhelfer vor Ort vertrauen. Kinder in Krisensituationen müssten weiter persönlich besucht werden.
Sorgen äußerten viele Träger der Kinder- und Jugendhilfe, wenn es darum geht, finanziell durch die Krise zu kommen. Viele von ihnen werden etwa nach der Anzahl der Hausbesuche finanziert, können aber derzeit oftmals nur telefonischen Kontakt halten. Einzelne dieser Träger berichteten auf Anfrage, dass die Finanzierung ihrer Leistungen teilweise nicht geklärt sei.
Zwar hatte die Bundesregierung Ende März mit dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) ein Gesetz auf den Weg gebracht, das genau diese Unsicherheit bei den Trägern verhindern soll. In der Praxis halten viele Vereine oder Sozialunternehmen diese Regelungen aber für unbefriedigend. Sie kritisieren, dass das Gesetz unübersichtlich, der Regelungsbereich unklar und mit zahlreichen Unsicherheiten verbunden sei.
Tödliche Gefahr
Wie ernst die Lage sein kann, wenn der Kontakt abbricht, zeigt ein Fall aus Mönchengladbach: Dort ermittelt derzeit die Mordkommission gegen eine Mutter und ihren Lebensgefährten, nachdem Mitte April ein fünfjähriger Junge ums Leben kam.
Das Jugendamt in Mönchengladbach in Nordrhein-Westfalen soll nach Verhängung der Corona-Maßnahmen keinen Kontakt mehr zu der Familie des Fünfjährigen gehabt haben. Dessen Kita soll dem Jugendamt noch vor der Schließung mögliche Anzeichen für Gewalt gemeldet haben, wie Griffspuren am Arm des Jungen und blaue Flecken. Dies bestätigte die Staatsanwaltschaft WDR und SZ.
Mitarbeiter des Jugendamtes sollen laut Staatsanwaltschaft noch am 9. März ein Gespräch mit dem Jungen und dem Lebensgefährten der Mutter geführt haben, dabei auch Hilfsangebote unterbreitet haben, die die Eltern aber ablehnten. Danach sollen aber nach Aktenlage keine weiteren Maßnahmen ergriffen worden sein.
Am 21. April starb der Fünfjährige, mutmaßlich durch Gewalt. Die Mutter und ihr Lebensgefährte sitzen in Untersuchungshaft. Sie sollen angegeben haben, der Junge sei mehrfach aus dem Hochbett gefallen und seine Verletzungen würden von den Stürzen rühren. Das Jugendamt Mönchengladbach wollte sich mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht äußern.
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