
Wirecard-Pleite Der Pfau aus Aschheim
Stand: 01.07.2020 18:51 Uhr
Bereits im Frühjahr lagen bei Wirecard tiefe Einblicke zu fragwürdigen Millionenkrediten und überteuerten Firmenkäufen vor. Das belegt ein bislang unveröffentlichtes Dokument, das WDR, NDR und SZ vorliegt.
Von Massimo Bognanni, WDR
Aschheim bei München, der 28. April 2020 - für den Dax-Konzern Wirecard sollte es ein Tag der Befreiung werden. Seit Monaten sah sich der Zahlungsdienstleister mit harten Vorwürfen konfrontiert. Bilanzmanipulation und Betrug standen im Raum.
Wirecard hatte den Wirtschaftsprüfer KPMG zu einer Sonderuntersuchung engagiert. "Am frühen Morgen", so verkündete Wirecard nun, sei der Bericht der Sonderprüfung eingegangen. Man werde ihn schnellstmöglich veröffentlichen. Nur so viel: "Belastende Belege wurden nicht gefunden."
Viel schlimmer als befürchtet
Tatsächlich lasen viele Kritiker den KPMG-Bericht anders. In den vergangenen Wochen schließlich zeigte sich, dass selbst schlimmste Befürchtungen nicht imstande waren, die Realität wiederzugeben. 1,9 Milliarden Euro in den Bilanzen Wirecards sind möglicherweise eine Luftnummer. Der einst gefeierte Tech-Konzern musste Insolvenz anmelden.
Statt Wirtschaftsprüfern stellen nun Staatsanwälte die Fragen. Der frühere Vorstandschef Markus Braun ist nur gegen eine Millionen-Kaution auf freiem Fuß. Sein einstiger Kollege Jan Marsalek ist auf der Flucht.
Fragwürdige Kredite und Gelder in Steueroasen
Das Desaster, es hätte der Öffentlichkeit womöglich schon früher klar werden können: wenn Wirecard damals statt einer knappen Zusammenfassung den ganzen KPMG-Bericht veröffentlicht hätte. WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" liegen die bisher unveröffentlichten Anhänge des Prüfberichts vor - 232 Seiten voller Ungereimtheiten.
Die Prüfer beleuchten unter anderem fragwürdige Kreditgeschäfte in Asien und Geldtransfers an eine Briefkastenfirma auf Mauritius. Insgesamt sind bei diesen Geschäften in den vergangenen Jahren offenbar mehrere hundert Millionen Euro aus der Wirecard-Gruppe abgeflossen. Der Verbleib des Geldes ist ungeklärt.
Schon Ende April gaben die Prüfer damit tiefe Einblicke. Details, die heute auch die Ermittler interessieren dürften, die inzwischen auch wegen Betrugsverdachts ermitteln. Worauf genau sich der Betrugsvorwurf bezieht, ist noch unklar. Wirecard wollte auf Anfrage die Prüfergebnisse von KPMG nicht kommentieren.
Wirecard: Wirtschaftsausschuss befragt BaFin-Chef zu Bilanzfälschungen
tagesschau 20:00 Uhr, 01.07.2020, Thomas Kreutzmann, ARD Berlin
Firma verzehnfacht sich plötzlich im Wert
Die KPMG-Prüfer beschreiben etwa das eigentümliche Geschäft aus dem Jahr 2015, über das bereits die "Financial Times" berichtet hatte. Wirecard wollte mit dem Deal den indischen Markt erobern. Im Fokus war das "Payment-Geschäft" der Great India Retail Group (GI Retail). Wirecard erhofft sich mit einem Unternehmenszukauf offenbar Zugang zu Millionen neuer Kunden, die über Karten und Apps zahlen. Das Projekt bekam den Namen "Peacock" (Pfau).
So aufgeplustert wie ein Pfau war womöglich auch der Deal, denn Wirecard kaufte laut KPMG-Bericht das Unternehmen von einem Fonds auf Mauritius für 216 Millionen Euro plus 110 Millionen Euro Gewinnbeteiligung - ein stolzer Preis für eine Firma, für die der Fonds nur kurz zuvor lediglich 35 Millionen Euro gezahlt haben soll. An wen Wirecard fast das Zehnfache des Preises überwiesen hatte, konnte auch KPMG nicht ermitteln.
Der Fonds namens EMIF 1A ist in der Steueroase Mauritius angesiedelt und weist ein Stammkapital von 100 Dollar aus. Wer die wirtschaftlich Berechtigten sind, hat sich nie klären lassen. Auf Frage von Prüfern soll Ex-Vorstand Marsalek erklärt haben, es sei nicht üblich, die Hinterleute zu ermitteln.
Wissen wir nicht, interessierte uns nicht
Burkhard Ley, damaliger Finanzvorstand, hat laut KPMG erklärt, dass niemand je nach den wirtschaftlich Berechtigten gefragt habe. So lesen sich alle Antworten von Wirecard: Wissen wir nicht, interessierte uns nicht, haben wir nicht gefragt.
Nach Erkenntnissen der KPMG-Forensiker hat Wirecard zudem zwischen 2015 und 2018 über seine Banktochter "strategische" Darlehen in Höhe von 180 Millionen Euro an Firmen vergeben, mit denen die Aschheimer wiederum selbst Geschäfte machten. Hinzu kamen bis zuletzt Kreditlinien von mehr als 300 Millionen Euro von der Konzernmutter und mehreren Tochterfirmen. Zum Teil sollen diese unbesichert gewesen sein.
Dreistellige Millionenbeträge nach Asien transferiert
Millionen flossen offenbar unter anderem nach Singapur. Laut KPMG soll diese Firma zunächst ein besichertes 25-Millionen-Euro-Darlehen der Wirecard Bank und später zusätzliche unbesicherte Kredite über weitere 115 Millionen Euro von Wirecards Asien-Zentrale erhalten haben. Angeblich hat die Firma zum großen Teil als Zahlungsdienstleister für Wirecard-Kunden in Asien gearbeitet.
Wirecard, so bekamen die Prüfer zu hören, leite auch seine eigenen Kunden an diese Firma weiter. Welche Kunden das gewesen sein sollen, erfuhren die KPMG-Experten aber auch auf Nachfrage nicht. Man habe "keine Informationen über die Kunden" erhalten, heißt es in dem Bericht.
Was KPMG jedoch herausbekam: Bis Frühjahr 2018 war die Firma laut Handelsregister eine Ölhandelsfirma. Der Geschäftsführer war zwischen Juni 2017 und Januar 2018 zugleich Geschäftsführer einer Firma der Wirecard-Gruppe, seine Frau wiederum leitete zwei weitere Wirecard-Tochterfirmen. So viel familiäre Nähe rief damals offenbar nicht die Compliance-Abteilung auf den Plan. Womöglich werden derlei Konstellationen nun durch die Staatsanwaltschaft München begutachtet.
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