Kommentar
Urteil im Gezi-Prozess Erdogan profitiert vom Freispruch
Stand: 18.02.2020 19:31 Uhr
Deuten die Freisprüche im Gezi-Prozess auf eine Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei? Das ist nicht so einfach zu beantworten. In jedem Fall profitiert die Regierung Erdogan.
Ein Kommentar von Christian Buttkereit, ARD-Studio Istanbul
Osman Kavala ist wieder ein freier Mann: Das Gezi-Verfahren ist für ihn und acht weitere in der Türkei befindlichen Beschuldigten zu Ende. Ist damit der türkische Rechtsstaat wieder hergestellt?
Ganz so einfach ist es nicht. Das Verfahren mit Freisprüchen aus Mangel an Beweisen zu beenden, war natürlich richtig und konsequent. Die 657-seitige Anklageschrift war ein Sammelsurium aus Möchtegernbeweisen und Verschwörungstheorien. Aber so etwas gibt es auch in anderen Fällen, die doch zu Verurteilungen führen. Vor allem bei Prozessen, die in der Öffentlichkeit nicht so genau beobachtet werden, wie der Gezi-Prozess.
Einfluss der Aufmerksamkeit
Dass der junge Richter die einzig richtige Entscheidung traf, kann mehrere Gründe haben. Der erste und beste wäre tatsächlich der rein nach juristischen Kriterien erwiesene Mangel an Beweisen. Das spräche für eine in Teilen doch noch vorhandene Unabhängigkeit der Justiz.
Eine weitere Rolle könnte die Aufmerksamkeit gespielt haben, die dieser Prozess genoss - nicht zuletzt weil Kavala ein international geachteter Mann ist. Vom ersten Prozesstag an waren Vertreter aus mehreren europäischen Konsulaten im Gerichtssaal. Auch der Deutsche Generalkonsul saß heute wieder im Publikum. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte den Fall bei ihrem Treffen mit Präsident Recep Tayyip Erdogan im Januar angesprochen.
Politische Einflussnahme auf die Justiz?
Dass der Vertreter des türkischen Innenministeriums am letzten Verhandlungstag noch einmal ausdrücklich die Bestrafung der Angeklagten forderte, spricht für eine politische Einflussnahme auf die Justiz. Dass sich der Richter dieser Forderung widersetzte, spricht dagegen. Oder aber dafür, dass der Einfluss der Regierung Erdogan auf die Gerichte schwächer ist, als noch vor Monaten. Manche sehen darin sogar ein Zeichen, dass vielleicht schon wieder andere das Sagen haben - so wie damals, als die Gülen-Bewegung die Justiz unterwandert hatte. Völlig auszuschließen ist das in der Türkei, wo die Justiz häufig Spielball politischer Kräfte war, nicht.
Allerdings kann die Regierung Erdogan damit rechnen, vom Freispruch der Gezi-Aktivisten zu profitieren - und das ist ein Argument gegen diese Annahme. Die Regierung dürfte damit nämlich gleichzeitig ihren eigenen Freispruch vom Vorwurf der Einflussnahme auf die Gerichte erwarten. Wenn am Mittwoch auch noch der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner vom Vorwurf der Terrorunterstützung freigesprochen werden würde, wäre dieser Eindruck noch verstärkt.
Investitionsgelder könnten wieder fließen
Worauf die türkische Regierung hoffen mag, ist, dass etwa Investitionen aus dem Ausland, die wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit auf Eis liegen, nun getätigt werden. Die von Volkswagen bei Izmir geplante Autofabrik taugt dafür allerdings nicht als Beispiel. Denn diese Entscheidung wurde wegen Erdogans Einmarsch in Syrien im vergangenen Herbst aufgeschoben. Dieses Hindernis ist nicht allein mit Freisprüchen in Prozessen aus der Welt zu schaffen, die es in einem wirklichen Rechtsstaat nie gegeben hätte.
Osman Kavala frei - Rechtsstaat wieder hergestellt?
Christian Buttkereit, ARD Istanbul
18.02.2020 18:54 Uhr
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